Auf einem Spaziergang durch Einsiedeln entdeckte Dolores Keller eine neu eröffnete Hanftheke. Sie hatte nie in ihrem Leben einen Joint geraucht und war auch sonst noch nie mit einem Cannabis-Produkt in Berührung gekommen. Aber was hatte sie zu verlieren? Sie nahm seit fünfunddreissig Jahren Schmerzmittel und Antirheumatika ein, ohne ihre Arthroseschmerzen je losgeworden zu sein. Also liess sie sich in der Hanftheke beraten und erwarb ein CBD-Öl.
«Genutzt hat es überhaupt nix», erinnert sich Dolores Keller. Aber ihre Neugier auf die Therapiemöglichkeiten der Cannabismedizin war geweckt. Sie konsultierte den Rheumatologen Dr. Achim Thilo Braun in Einsiedeln (mittlerweile in Cham) und fand bei ihm ein offenes Ohr für ihren Wunsch, es mit medizinischem Cannabis zu versuchen.
Zweiter Versuch: CBD und THC
Dr. Braun verschrieb eine Cannabis-Tinktur mit CBD und THC und besorgte innerhalb weniger Tage eine Ausnahmebewilligung des BAG. Das Päckli mit der bestellten Cannabismedizin kam per Einschreiben von der Bahnhof-Apotheke Langnau im Emmental. Die Kosten berappte Dolores Keller selber, nachdem die Krankenkasse eine Kostenübernahmen verweigert hatte.
Es wird allgemein empfohlen, CBD und THC zu kombinieren. Die beiden Cannabinoide sollen zusammenwirken. Doch bei Dolores Keller wollte sich partout kein «Entourage-Effekt» einstellen. Weder verbesserte sich ihre Schlafqualität (vielfach die erste Wirkung), noch gingen die Gelenkschmerzen zurück.
Sie wollte die Cannabismedizin schon aufgeben, als Dr. Braun vorschlug, es mit Dronabinol zu probieren. Dronabinol ist rein synthetisches THC (ohne Inhaltsstoffe der Hanfpflanze). Wiederum bestellte Dolores Keller mit ärztlichem Rezept und behördlicher Ausnahmegenehmigung im Emmental ein Päckli – und der dritte Versuch brachte die Wende.
Abstand vom Schmerz
Dolores Keller nimmt nun schon seit zwei Jahren zweimal am Tag 8 Tropfen Dronabinol ein. 8 Tropfen entsprechen ungefähr 5,6 mg THC. Wie bei anderen Medikamenten auch, hat es etwas Zeit gebraucht, die ideale Dosis herauszufinden. «Doch seit ich sie gefunden habe, halte ich mich pedantisch genau daran», sagt sie. «Ein Tropfen weniger, und ich habe keine Wirkung; ein Tropfen mehr, und ich bekomme einen Rausch, was ich gar nicht mag!»
Ob sie dank Cannabis schmerzfrei sei? «Nein», erklärt Dolores Keller ganz offen. «Die Schmerzen sind immer noch da, wann immer ich mich bewege. Aber ich nehme sie anders wahr, wie aus einer gewissen Entfernung. Es ist schwer zu beschreiben, ich kann nur sagen, dass ich die Schmerzen dank Cannabis viel besser ertrage. Ich kann sie wegstecken und aktiv sein, rausgehen, mich bewegen.»
Hanf macht mobil
Zu ihrem wöchentlichen Training zählen viermal 30 Minuten auf dem Crosstrainer und zwei lange Spaziergänge mit Hunden. Dolores Keller fühlt sich mit 70 Jahren noch keineswegs zu alt fürs Dog-Sitting und bewegt sich mehr als manche ihrer Altersgenossen. Zudem schlafe sie ausreichend und habe die Schmerzmittel, die sie während fünfunddreissig (!) Jahren eingenommen habe, dank Dronabinol vollständig absetzen können.
Und Nebenwirkungen? «Keine!», sagt Dolores Keller, ihr Körper vertrage den Cannabis-Wirkstoff ohne Probleme. «Ich habe in zwei Jahren nicht die geringste Nebenwirkung festgestellt.» Ein weiteres Plus: Die Krankenkasse übernimmt die Kosten der Dronabinol-Therapie.
Kampf der Polyarthrose
Dolores Keller erkrankte Mitte dreissig an einer Arthrose. Anfangs waren die Fingerendgelenke betroffen (Heberden-Arthrose). Im Laufe der Jahre breitete sich die Arthrose im ganzen Bewegungsapparat aus: in den Handgelenken, in den Halswirbeln, in der Lendenwirbelsäule, in Hüfte, Knie, Ellbogen, Schulter usw.
Die heute 70-Jährige hat schon dreiundzwanzig (!) Gelenk-Operationen über sich ergehen lassen. Die meisten betroffenen Gelenke wurden chirurgisch versteift, fünf durch künstliche Gelenke ersetzt. «Cannabis hält die Krankheit nicht auf», weiss Dolores Keller. «Die Polyarthrose wird voranschreiten, solange sie in meinem Körper Gelenke findet.» Der Termin für die vierundzwanzigste Gelenk-OP ist denn auch schon im Kalender 2020 eingetragen.
Trotzdem ist Dolores Keller zufrieden. Die tägliche Einnahme von THC hat sie von Schmerzmitteln und deren Nebenwirkungen befreit. Sie hat dank medizinischem Cannabis deutlich mehr Lebensqualität und Lust auf Bewegung.
Datum des Gesprächs mit Dolores Keller: 18. November 2019