Angenommen, es gefrören alle Rückenschmerzen dieser Welt zu einem Eisberg – und dieser Koloss im Polarmeer zöge das Augenmerk der medizinischen Forschung auf sich. Alsbald würde sich ein wissenschaftlicher Konsens darüber bilden, dass nur die Spitze des Eisbergs zu erforschen sei: ungefähr 15% aller Fälle von Rückenschmerzen.
Über die übrigen 85% würde man sich zwar Gedanken machen. Aber niemand ginge dem Kiel des Eisbergs mit dem gleichen Forschungseifer auf den Grund wie seiner sprichwörtlichen Spitze. Unterhalb der Wasseroberfläche würde man nur alltägliche, gewöhnliche, unspezifische Schmerzen vermuten.
Unspezifische Schmerzen?
Wenn Sie in einem ärztlichen Papier über sich lesen, sie hätten «unspezifische Rückenschmerzen», mögen Sie sich fragen, ob das ein Codewort sei für eingebildete oder simulierte Schmerzen. Ärzte und Ärztinnen versichern, dass das nicht der Fall sei. Der Ausdruck habe keinen abwertenden Beiklang. «Unspezifische» Rückenschmerzen seien so wertfrei zu nehmen wie das «unspezifische» Immunsystem, das immerhin 90% der Abwehr leistet, ganz ohne spezifische Antikörper.
Zugeben muss man allerdings die begriffliche Unschärfe. Unter unspezifische Rückenschmerzen fallen gleichermassen akute und chronische Rückenschmerzen und sämtliche Schattierungen von rein körperlichen bis zu rein somatoformen Schmerzen (Schmerzstörungen ohne organische Ursache). Zum Beispiel also auch Rückenschmerzen als Teil einer psychischen Erkrankung.
Sammelsurien wie diese rufen nach wissenschaftlicher Differenzierung. So schlug Peter O’Sullivan (Professor für muskuloskelettale Physiotherapie in Australien) schon vor fünfzehn Jahren vor, die grosse Gruppe der unspezifischen Kreuzschmerzen in drei Untergruppen zu gliedern.1 Gemäss Hannu Luomajoki (Professor für muskuloskelettale Physiotherapie an der ZHAW) können wir von drei ungefähr gleich grossen Untergruppen ausgehen:
- mechanische Schmerzen infolge von Bewegung
- mechanische Schmerzen infolge der Körperhaltung
- Schmerzen psychischen Ursprungs2
Solche Gruppierungen haben bis anhin allerdings wenig Anklang gefunden. So bleibt es bei dem einen gemeinsamen Nenner, dass unspezifische Rückenschmerzen eine ungewisse Ursache haben. Sie lassen sich weder aus einer Schädigung der Wirbelsäule erklären noch mit einer Organ- oder einer Systemerkrankung (wie Arthritis, Fibromyalgie, Morbus Bechterew usw.) in Verbindung bringen. Anstelle von «unspezifisch» könnte man sie auch «essenziell» oder «idiopathisch» nennen. Alle drei Ausdrücke besagen im medizinischen Jargon so viel wie «ohne bekannte Ursache».3
Unerforschliche Tiefen?
Eisberge schwimmen zuhauf durch Seminare und Workshops über Literatur, Psychologie, Pädagogik, Kommunikation, Marketing oder Betriebsökonomie. Überall will das Eisbergmodell vermitteln, dass von einem ganzen Sinnzusammenhang oder Aktionsfeld immer nur ein geringer Bruchteil sichtbar sei oder bewusst ablaufe. Das wahre Ausmass bleibe verborgen. Ganze 80% bis 90% lägen regelmässig unterhalb der Wahrnehmungs- oder Bewusstseinsschwelle.4
Ähnlich verhält es sich mit dem medizinischen Blick auf Rückenschmerzen. Zumal früher oder später gerne bildgebende Verfahren ins Spiel kommen wie Röntgenbilder, die Computertomographie (Scans mit Röntgenstrahlung) oder die Kernspintomographie (Bilderzeugung durch Magnetfelder und Radiowellen). Was diese ganze Maschinerie erkennbar machen kann, ist eindrücklich. Aber für die Ursachen von ungefähr 85% aller Rückenschmerzen ist sie so blind wie das Sonar für den Kiel eines Eisbergs. Auch heute noch fahren Schiffe einen grossen Bogen um Eisberge, weil sich deren wuchtige Ausläufer unter Wasser mit Schallimpulsen (Sonar) kaum orten lassen.
Was tun bei unspezifischen Rückenschmerzen?
Gewöhnliche Rückenschmerzen lassen sich in der Akutphase (1 bis 6 Wochen) ohne ärztliche Hilfe bewältigen. Grundsätzlich wird empfohlen, aktiv zu bleiben und sich zu bewegen. Zwischendurch darf und soll man sich entspannen, die Schmerzstelle wärmen oder kühlen, sich Massagen gönnen und allenfalls Schmerzmittel einnehmen. Alle diese Tipps beruhen auf der Erfahrung, dass die meisten unspezifische Rückenschmerzen binnen weniger Tage oder Wochen verschwinden.
Chronische unspezifische Rückenschmerzen (ab 7 Wochen) hingegen sind eine Herausforderung. Um sicherzugehen, dass keine spezifische Ursache wie eine strukturelle Schädigung oder eine organische Komponente übersehen wird, sind fachärztliche Abklärungen nötig. Sie umfassen eine gründliche klinische Diagnostik, eine körperliche Untersuchung und in der Regel Bildgebung. Die herkömmliche Bildgebung wird aber niemals sichtbar machen, was man als die häufigste Ursache chronischer Rückenschmerzen vermutet, nämlich hartnäckige Muskelverspannungen, genauer: pathologische Veränderungen in den Faszien und Muskeln.
Zwar gäbe es eine Technik, in die Tiefen der Muskeln und Faszien hineinzuschauen: die hochauflösende Ultraschall-Elastographie. Gewebeverhärtungen erscheinen im Elastogramm andersfarbig als gesundes, geschmeidiges Gewebe. Aber die Elastographie wurde für die Tumordiagnostik entwickelt und steht (in der Schweiz) weder für die Untersuchung noch für die Behandlung chronischer Schmerzen zur Verfügung.5
Chronische Rückenschmerzen können viel Leid bedeuten. Auch fehlende Anerkennung. Viele Betroffene spüren, dass ihre Schmerzen eine körperliche Ursache haben, und fühlen sich unverstanden, wenn die Ärzte nichts finden. Daher wohl der verbreitete Wunsch nach bildgebenden Verfahren, die das Unerklärliche sichtbar machen sollen. Aber die Bildgebung kann auch falsche Hoffnungen wecken. Zumal sichtbare Schädigungen nicht zwangsläufig Schmerzen verursachen.
Die aktuellen Leitlinien empfehlen, chronische unspezifische Rückenschmerzen «multimodal» anzugehen. Eine multimodale Therapie bündelt gleichzeitig mehrere, individuell angepasste Massnahmen und Programme in der Hoffnung, dass sie in der Summe die chronischen Schmerzen lindern. Dabei liegt ein häufiger therapeutischer Schwerpunkt auf Verhaltensänderungen (auch gegen das lange Sitzen ohne Unterbrechung), dem Alltagstraining und dem Muskelaufbau.
Review: Dr. med. Manuel Klöti
Broschüre
Weitere Informationen zu akuten und chronischen Rückenschmerzen und deren Behandlung finden Sie in der Broschüre «Rückenschmerzen». Zu bestellen im Shop der Rheumaliga Schweiz.
Anmerkungen
- O’Sullivan P. Diagnosis and classification of chronic low back pain disorders: Maladaptive movement and motor control impairments as underlying mechanism, Manual Therapy, Volume 10, Issue 4, 2005, S. 242-255. https://doi.org/10.1016/j.math.2005.07.001
- Luomajoki, H.: Subgruppierung der Rückenschmerzen: Was und wie behandeln? 13. Schmerztherapeuten-Treffen 2014. Universitätsklinikum Freiburg. Unveröffentlichte Präsentation zum Vortrag.
- Villiger, P.M.: Gibt es den unspezifischen Rückenschmerz, in: Rheuma Top 2019. Symposium für die Praxis. Unveröffentlichtes Handout. 22. August 2019. Seedamm Plaza, Pfäffikon SZ.
- Wikipedia: Eisbergmodell. Abrufbar unter diesem Link. – Deutsches Institut für Marketing: Das Eisbergmodell oder die Sichtbarmachung der Beziehungsebene. Aufrufbar unter diesem Link. Letztmals eingesehen am 16.11.2020.
- Bauermeister W. Die Bedeutung der Elastografie für die Diagnose chronischer Schmerzen. Schmerzmedizin. 2017;33 (2): S.26-30.