Was tun Rheumabetroffene gegen die Fatigue? Welche Aktivitäten oder Behandlungen helfen, auf tiefem Energielevel neue Kräfte zu schöpfen?
Auf Fragen wie diese antworten Betroffene unterschiedlich. Gerne geben wir einige Empfehlungen und Erfahrungen weiter. Unsere Auslese beruht auf einer kleinen Umfrage unter Fibromyalgie-Betroffenen, ergänzenden Recherchen sowie fachlichen Einschätzungen aus der Komplementärmedizin:
- Bewegung
- Qi-Gong
- Supplementierung
- Ernährung
- Hypoxie-Training
- Coping und Pacing
[1] Bewegung ohne Leistungsdenken
Bei Fatigue lautet die allgemeine Empfehlung: «Erhöhen Sie das körperliche Aktivitätsniveau!» Unter den Beispielen für empfohlene körperliche Aktivitäten fehlen praktisch nie das Ausdauertraining und die Muskelkräftigung.
Es ist kein Geheimnis, dass derlei Empfehlungen bei Betroffenen kaum ein olympisches Feuer entfachen. Je stärker eine muskuläre Fatigue ausgeprägt ist, desto schwerer fallen sportliche Trainings. Denn sie setzen einen Energiestoffwechsel voraus, der eine biologische Anpassungsreaktion ermöglicht, nach dem Schema: Belastung > Ermüdung > Erholung > Superkompensation, das heisst mit dem Ziel einer überkompensierenden Wiederherstellung des energetischen Anfangszustandes.1
Selbst wenn man von sportlichen Trainingszielen abrückt, bleibt immer noch der Anpassungsgedanke, den wir im Begriff Fitness gleichzeitig ausdrücken und verdrängen. Denn englisch fit bedeutet ursprünglich nicht gesund, sondern angepasst, wie im evolutionsbiologischen Prinzip «survival of the fittest»: Es überleben die Bestangepassten.
In diesem Lichte verhalten sich Menschen mit einer Fatigue intuitiv richtig, wenn sie sich äusserlichen, sozial erwünschten Anpassungszielen verweigern, zu deren Erreichung man sich über die innere Empfindung von Schmerz oder Erschöpfung hinwegsetzen muss.2
Es gibt viele sinnvolle Formen der Bewegung, die sich in den Alltag integrieren lassen, fern von Fitness und sportlichem Leistungsdenken.3 Grundsätzlich empfehlen kann man Menschen mit einer Fatigue, sich häufig, regelmässig und langsam zu bewegen statt nur einmal die Woche und dann zu schnell und zu intensiv. Also lieber täglich einen kurzen Spaziergang machen oder ein paar Kilometer Velo fahren, als am Wochenende zu joggen oder zu wandern. Fast immer möglich ist ganz leichte Gymnastik; besonders eignen sich sanfte Yoga-Stile wie Luna-Yoga oder Yin-Yoga oder chinesische Bewegungsübungen wie Tai-Chi und Qi-Gong.
[2] Qi-Gong bei Fatigue
Qi ist ein im Grunde unübersetzbarer Ausdruck aus der traditionellen chinesischen Philosophie. Er bezeichnet die universelle feinstoffliche Energie, die als Naturkraft, Lebensessenz, Bioplasma usw. den ganzen Kosmos erfüllt und durchdringt. Gong bedeutet eine Fertigkeit, die man sich durch regelmässige Übung erarbeiten und in der man es zu einer gewissen Meisterschaft bringen kann.
Qi-Gong bedeutet mithin so viel wie Arbeiten mit Energie und kommt wir gerufen, dem chronischen Mangel an muskulärer, kognitiver und emotionaler Energie abzuhelfen. Qi-Gong lehrt, Qi wahrzunehmen, zu mobilisieren, mit der Aufmerksamkeit zu lenken und damit die Energiespeicher zu füllen.
Auf der Suche nach besonders wirkungsvollen Techniken der Qi-Speicherung stösst man unweigerlich auf die sog. geheimen Übungen, die jahrhundertelang nur in einzelnen buddhistischen und daoistischen Klöstern mündlich weitergegeben wurden. Sie werden in China seit 1980 öffentlich gelehrt und haben zügig den Weg in den Westen gefunden. Speziell in Mitteleuropa haben es die Wirbelsäulen-Basisübungen des Chan Mi Qi Gong4 und die sog. kaiserlichen Übungen des Hui Chun Gong5 zu einer gewissen Bekanntheit gebracht. Indem diese Übungen Qi primär im Damm- bzw. Beckenbodenbereich (Mi Chu) sammeln, stimulieren sie besonders die Keimdrüsen und die Hormonproduktion. Sie zählen deswegen zu den Verjüngungsübungen.
Qi-Gong ist wie keine andere Bewegungsform darauf angelegt, energetische Ungleichgewichte auszugleichen und die Energiebilanz zu verbessern. Gerade die geheimen Übungen verbrauchen kaum Eigenenergie und erfordern keine Atemkontrolle, keinen Kraftaufwand und auch keine Willensanstrengung. Man bewegt sich langsam, geschmeidig, elastisch und mit starker Bodenhaftung. Nach dem Üben hat man nicht die Empfindung, sich verausgabt zu haben, sondern fühlt sich erfrischt und belebt.
Über Qi-Gong und seine Sonderformen gibt es unzählige Lehrbücher und YouTube-Videos. Aber weil sich durch Nachahmen und unsorgfältiges Üben Fehler einschleichen können, sollte man Qi-Gong in einem Kurs erlernen. Sie finden qualifizierte Qi-Gong-Lehrer und -Lehrerinnen in der Mitgliederliste der Schweizerischen Gesellschaft für Qigong und Taijiquan SGQT.
[3] Supplementieren bei Fatigue?
Viele Menschen mit Fatigue greifen irgendwann in den Vitaminschrank und supplementieren mit Vitamin C, Vitamin D, Vitamin B12 oder Zink, Eisen, Magnesium. Solche Supplementierungen in Eigenregie zeitigen leider selten erkennbare Erfolge.
Das ist schade. Denn es gibt inzwischen genügend evidenzbasierte Studien, die für eine Supplementierung von Mikronährstoffen bei chronischen Erkrankungen sprechen. Chronisch kranke Personen zeigen regelmässig Stoffwechselstörungen, die von Mikronährstoffmängeln herrühren oder durch sie verstärkt werden. Zum Beispiel haben Untersuchungen bei Frauen mit einer Fibromyalgie im Vergleich zu gesunden Frauen mit ähnlichem Body-Mass-Index signifikante Veränderungen im Energiestoffwechsel, im Fettstoffwechsel und im Stoffwechsel der Aminosäuren nachgewiesen.6
Gemäss neuen Studiendaten sollte die Supplementierung mit einem Multivitamin-Mineralienpräparat beginnen und dann zu Einzelstoffen übergehen. Dies geschieht am besten unter professioneller therapeutischer Anleitung. Wenden Sie sich an qualifizierte Fachpersonen, wie Sie sie etwa im Erfahrungsmedizinischen Register
(EMR) finden. Umfassende Stoffwechseltherapien werden nicht nur die individuellen Mangelzustände beheben, sondern auch die Leber und die Nieren bei der Ausleitung von Schad- und Giftstoffen unterstützen und eventuell auch noch Sanierungsmassnahmen durchführen (Darm, Zähne, Kiefer).
[4] Wie sich bei Fatigue ernähren?
Zwischen der Ernährung und der Fatigue gibt es Zusammenhänge. Erst vor kurzem berichtete die Schweizerische Multiple-Sklerose-Gesellschaft über eine Analyse von über tausend Datensätzen im MS-Register.7 Wie die Auswertung ergab, geht eine gesunde Ernährung mit einer Reduktion der Fatigue einher.
Als eine gesunde Ernährungsweise definierte die Studie einen hohen Konsum von Gemüse, Obst, Hülsenfrüchten, Nüssen und Fleischersatzprodukten. Sie wurde verglichen mit einem hohen Konsum von Fleisch, Wurst, Aufschnitt, Brot, Getreide und zuckerhaltigen Speisen.
Die Studie deckt sich mit Hinweisen in der internationalen Forschungsliteratur zum Einfluss des Ess- und Trinkverhaltens auf eine Fatigue. Auch wenn sich die Ernährungsgesellschaften noch zurückhalten, lassen sich daraus ein paar allgemeine, ärztlich empfohlene Tipps ableiten:8
- Ernähren Sie sich ausgewogen und nährstoffreich. Auf den Speisezettel gehören viel Gemüse, Proteine und ausreichend ungesättigte Fettsäuren, vor allem Omega-3. Wichtige Omega-3-Quellen sind Leinsamen, Hanfsamen, Walnüsse und Fische wie Forelle, Hering, Heilbutt, Lachs, Makrele, Sardine und Thunfisch.
- Essen Sie regelmässig kleinere Mahlzeiten, um den Blutzuckerspiegel stabil zu halten und den Körper laufend mit Energie zu versorgen. Vermeiden Sie grosse Portionen, die viel Verdauungsenergie abfordern.
- Führen Sie ein Ernährungstagebuch, in dem Sie Ihre Mahlzeiten und deren Auswirkungen auf Ihr Befinden schriftlich festhalten. Meiden Sie Nahrungsmittel, von denen Sie wissen oder vermuten, dass sie Unverträglichkeiten auslösen.
- Flüssigkeitsmangel kann die Fatigue verschlimmern. Trinken Sie täglich mindestens 8 Gläser oder anderthalb Liter Wasser bzw. zuckerfreien Kräutertee, um einer Dehydrierung vorzubeugen.
Darüber hinaus kann nur eine individuelle Ernährungsberatung Ihren persönlichen Speisezettel unter die Lupe nehmen, Sie bei vermeintlichen oder tatsächlichen Unverträglichkeiten beraten und eine Ernährungsumstellung professionell begleiten. Die Schweizer Krankenkassen übernehmen die Kosten einer ärztlich verordneten Ernährungsberatung.
[5] Hypoxie gegen Fatigue
Hypoxie bedeutet Sauerstoffmangel. Die kontrollierte Anwendung sauerstoffarmer Atemluft ist in der Sportmedizin unter dem Namen Höhentraining seit Jahrzehnten gang und gäbe. Das Training in echter oder mit simulierter Höhenluft aktiviert den Energiestoffwechsel in den winzigen Zellkraftwerken, den Mitochondrien.
Die Mitochondrien produzieren aus Glucose und Fettsäuren unter Sauerstoffverbrauch das Energiemolekül ATP. Dabei entstehen immer auch freie Sauerstoffradikale, die als aggressive, hochreaktive Teilchen die mitochondriale Erbsubstanz schädigen. Zwischen 30 und 40 Jahren beginnen sich diese Schäden und damit die sinkende Energieproduktion auszuwirken. Wir bemerken eine Abnahme der Muskelkraft, der Hautelastizität, der Sehstärke und der Nervenleistung.
Ein Hypoxie-Training vermag derlei Alterungsprozessen entgegenzuwirken. Es hat eine verbreitete therapeutische Form im Intervall-Hypoxie-Hyperoxie-Training (IHHT) gefunden. Hypoxie und Hyperoxie im Wechsel (Sauerstoffmangel/-überfluss) zerstören die alten, geschädigten Mitochondrien und beschleunigen die Vermehrung neuer, gesunder Mitochondrien.
Zum Wirkmechanismus: Sauerstoffschwankungen erhöhen die Menge an Sauerstoffradikalen und stressen dadurch die Mitochondrien. Gesunde Mitochondrien vermögen sich mit Antioxidantien gegen den oxidativen Stress zu schützen, während die alten, geschädigten Mitochondrien daran massenweise zugrunde gehen. Dieses Massensterben (Mitoptose) verursacht einen kurzzeitigen zellulären Energiemangel, der das Signal zur beschleunigten Bildung neuer Mitochondrien gibt.9
Das Hypoxie-Training kann sich auf eine solide Grundlagenforschung berufen.10 Die Aufdeckung der molekularen Mechanismen, die Zellen befähigen, den Sauerstoffgehalt zu erkennen und darauf zu reagieren, ist sogar mit dem Nobelpreis für Medizin 2019 gewürdigt worden.11 Aber zur Wirksamkeit dieser Therapie bei muskulärer, kognitiver und emotionaler Fatigue gibt es gegenwärtig nur Erfahrungsberichte (anekdotische Evidenz), weswegen die Schweizer Krankenkassen sich weigern, diese Therapie anzuerkennen.
Weitere Informationen zum Hypoxie-Training (auch Zelltraining genannt) finden Sie bei spezialisierten medizinischen Zentren und ärztlichen Praxen. Die Rheumaliga Schweiz kann dazu keine Empfehlungen abgeben.
[6] Coping und Pacing mit einem Energietagebuch
Das eigene Energie- und Erschöpfungsgefühl akribisch zu protokollieren, wird vor allem Krebsbetroffenen empfohlen, weil die Fatigue eine häufige Nebenwirkung der Chemotherapie und der Bestrahlung ist und bei 30% der Behandelten nach der Therapie bestehen bleibt.12 Praktisch alle Vorlagen für Energietagebücher kommen daher aus der Onkologie, aber Rheumabetroffene können sie genauso verwenden.
Sinn und Zweck eines Energietagebuches liegen im Coping und Pacing. Es soll dabei helfen, Stress zu vermeiden und Bewältigungsstrategien zu entwickeln (Coping) sowie die verfügbaren Energiereserven einzuteilen und den Tag zu strukturieren (Pacing).
Je nach der gewählten Vorlagen notieren Sie im Tagebuch morgens, wie viele Stunden und in welcher Qualität Sie geschlafen haben, und tagsüber möglichst stündlich die Aktivitäten, das Energielevel, den Grad der Erschöpfung und andere Symptome. Häufig reichen eine oder zwei Wochen, um im Tagebuch Energiemuster zu entdecken: Welche Massnahmen oder Ereignisse verschlimmern oder reduzieren meine Erschöpfung? Wo verschwende ich meine Kräfte? Wo gewinne ich Energie?13
Sie finden geeignete Vorlagen im Internet mit den Suchbegriffen «Energietagebuch» oder «energy diary». Übrigens hat die Rheumaliga Schweiz eine eigene Vorlage für ein kombiniertes Schmerz- und Energie-Tagebuch geschaffen; mehr zu dessen Anwendung und die Möglichkeit zum Download finden Sie hier.
Fachliche Prüfung
Sybille Binder, dipl. Ernährungsberaterin FH, Institut für integrative Naturheilkunde NhK, Zürich [3, 4]
Thomas Binzegger, Qigong- und Tai-Chi-Lehrer SGQT, DONGDAO, Cham [2]
Dr. med. Heinz Lüscher, Praktizierender Arzt FMH, Vitalstoffmediziner, Wise Medicine, Swiss Integrative Clinic, Winterthur [5]
Djurdja Petrina, Qi-Gong-Lehrerin und Atemtherapeutin. balance place: praxis für kraft, ruhe und entspannung, Zürich [2]
Martina Rothenbühler, Physiotherapeutin, Rheumaliga Schweiz [1, 6]
Anmerkungen
- Hölkte, Volker: Grundlagen und Prinzipien des sportlichen Trainings (2003), PDF zum Download. S. 9-13.
- Schleip, Robert & Jäger, Heike: Interozeption, in: Schleip, Robert, Findley, Thomas W., Chaitow, Leon, Huijing, Peter A. (Hrsg.): Lehrbuch Faszien. Amsterdam, München 2020, S. 64-68.
- Bowman, Katy: Bewegung liegt in der DNA. Wie man lernt, sich wieder natürlich zu bewegen, und dadurch gesund wird. München 2016. Die studierte Biomechanikerin argumentiert auf S. 65-75, warum die landläufige Gleichsetzung von Bewegung und Fitness aufzugeben sei.
- Liu Han Wen: Chinesisches Chan Mi Qi Gong. Das ganze Buch. Lohne 2019. – Stummvoll, Ursula: Chan Mi – QiGong. Das Wirbelsäulen-Qigong aus der buddhistischen Zen- und tibetischen Mi-Schule. Hainsacker 5. Aufl. 2016. – Jiang, Monika C.: Chan Mi Qi Gong. Durch einen gestärkten Rücken zu innerer Harmonie. Stuttgart 2006.
- Bian Zhizhong: Daoistische Übungen für die Gesundheit, Rödermark 2016. – Mok Chong Meng und Shen Xin Yan: Huichungong. Das Verjüngungs-Qigong: Die erste Stufe der Stehenden Methode. Lohne 2017. – Hackl, Monnica: Jung und schön mit Hui Chun Gong. Die geheimen Verjüngungsübungen der chinesischen Kaiser. München 2002.
- Menzies et al. Metabolomic Differentials in Women With and Without Fibromyalgia. Clin Transl Sci 2020 Jan;13(1):67-77; DOI: 10.1111/cts.12679
- Schweizerische Multiple Sklerose Gesellschaft: Welche Ernährungsmuster können sich positiv bei Fatigue auswirken? (29.11.2021) Abrufbar über diesen Link. Letzter Seitenaufruf am 12.09.2023.
- Dr. Armin Hassdenteufel: Ernährung bei Fatigue Syndrom & Chronischer Erschöpfung (08.05.2023). Abrufbar über diesen Link. Letzter Aufruf am 24.08.2023. – Selpers: Wie die Ernährung die Fatigue beeinflussen kann (09.10.2016). Abrufbar über diesen Link. Letztmals aufgerufen am 12.09.2023.
- Prokop, Arkadi: Zelluläre Kraftwerke natürlich reparieren. CO.med Fachmagazin für Komplementärmedizin 11/08. Download über diesen Link.
- Eckert N, Grunert D, Lenzen-Schulte M. Wenn Zellen ausser Atem kommen. Dtsch Arztebl 2019; 116(41): A-1820/B-1502/C-1474. PDF zum Download.
- Egorov, Egor: Zell-Training. Mit Hypoxie entspannt mehr Energie gewinnen. Berlin 2021. Siehe auch die Website des Autors: https://doc-egorov.com/
- Hirnstiftung: Immer erschöpft: Welche Behandlung gibt es bei Fatigue? Abrufbar über diesen Link. Letztmals ausgerufen am 12.09.2023.
- ME/CFS-Portal: Pacing und Coping – Energiemanagement (02.06.2012). Abrufbar über diesen Link. Letzter Seitenaufruf am 12.09.2023.
Stichworte
- Antioxidantien
- ATP
- Bewegung
- Energie
- Fatigue
- Fitness
- Hypoxie
- Mitochondrien
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- Qi
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- Vitamin D