«Es ist wichtig, trotz allem weiterzuleben»

vorlesen
DSC 0447b

Schmerz begleitet Nicola Renfer seit ihrer Jugend. Aus Migräneanfällen entwickelte sich über die Jahre eine komplexe Schmerzerkrankung. Mit der Corona-Infektion wurde das Leben der Lehrerin und Mutter auf den Kopf gestellt. Obwohl seit Januar 2022 fast nichts mehr geht, hat sie den Mut nicht verloren.

Text: Simone Fankhauser
Fotos: Susanne Seiler

Nicola Renfer sitzt mit geschlossenen Augen am Esstisch in der offenen Küche. In der linken Hand hält sie einen Bleistift. Vor ihr liegt ein Papier. Darauf stehen Wörter. Gekonnt arrangiert zu lyrischen Sätzen. «Bevor ich mit Schreiben angefangen habe, habe ich noch nie in meinem Leben etwas mit so viel Leidenschaft getan», sagt die 43-jährige. Ohne die Augen zu öffnen, fährt sie fort: «Ist es nicht faszinierend, dass im Begriff Leidenschaft das Wort Leiden steckt?» Jahrzehntelang kannte sie nur das Leiden.

Es begann im Jugendalter mit Migräneanfällen. Später breitete sich der Schmerz aus. Er floss hinunter, vom Nacken in die Schulter, in die Hüfte, das Bein, bis in den Fuss. Langsam, aber unaufhaltsam. Irgendwann war ihre ganze rechte Seite durchtränkt. Mit jedem Zentimeter, den der Schmerz an ihrem Körper eroberte, kamen neue Beschwerden hinzu.

Chronische Erkältungen, Symptome einer Fibromyalgie, eine Überempfindlichkeit. Die Corona-Impfung verschlechterte ihren Zustand sprunghaft. Doch die Lehrerin funktionierte weiter. Sie unterrichtete, besorgte den Haushalt, pflegte den Garten. Sie trieb Sport, spielte Klavier und unternahm mit ihrem Mann und ihrem Sohn Velotouren. Bis sie an Corona erkrankte und nichts mehr ging.

Die Hölle auf Erden

DSC 0435b

Das war im Januar 2022. Seit dem Infekt ist Nicola Renfer alltagsuntauglich. Licht, Geräusche und Gerüche verursachen regelrechte Schmerzblitze in ihrem Körper. Immer wieder erleidet sie Zusammenbrüche. Obwohl sie sich durch Sprache sehr gut ausdrücken kann, fehlen ihr die Worte, wenn sie diese «Crashes» beschreiben soll.

Die Hölle, ist das Treffendste, das ihr einfällt. In diesen Momenten geht nichts mehr. Sie kann nur daliegen, in der Dunkelheit, gefangen in den Klauen des Schmerzes. Erfüllt von diesem Leiden. Und mit jedem Crash verschlechtert sich ihr Zustand weiter. Monatelang kämpfte sie sich von Sprechzimmer zu Sprechzimmer. Sie wurde Stammgast in der Neurologie, der Immunologie, bei den Spezialisten für Post-Covid und denjenigen für Schmerzerkrankungen.

Vor jeder Untersuchung schöpfte Nicola Renfer neue Hoffnung. Hoffnung auf Genesung, auf eine Rückkehr in den Lehrberuf, auf eine Rückkehr in ihren Alltag. Nach einem halben Jahr ohne Besserung musste sie sich eingestehen, dass sie einen neuen Lebensentwurf brauchte.

Das Positive suchen und pflegen

Mittlerweile hat die Schmerzbetroffene nebst chronischer Migräne und Allodynie eine weitere Diagnose erhalten: Myalgische Enzephalomyelitis, kurz ME/CFS (s. Kasten). Der Hinweis auf diese schwere neuroimmunologische Erkrankung kam von ihrer Psychologin. Bei den Ärztinnen und Ärzten ist ME/CSF noch wenig bekannt. Bei Nicola Renfer hat der Schmerz über lange Zeit die Erschöpfung maskiert und sich in den Vordergrund gedrängt. Auch deshalb kommt die Diagnose erst spät.

In den Fachtexten und den Berichten Betroffener erkennt sie sich zu 100% wieder. Viele dieser Geschichten machen alles andere als Mut. Aber trotz ihrer massiven Beschwerden liegt es nicht in ihrer Natur, dazusitzen und abzuwarten. Sie ist ständig auf der Suche nach Ärzten, die sie weiterbringen. Nach Therapie- und Bewegungsformen, die ihrem geschundenen Körper guttun. Und nach Fachliteratur, die ihr Leiden erklärt. «Ich bin ein fröhlicher Mensch. Es ist meine Strategie, in allem die Vorteile zu suchen», sagt die Mutter. Heute habe sie das Privileg, sich jeden Tag Zeit für ihre Yogapraxis nehmen zu können. Das habe früher in ihrem durchgetakteten Alltag nie Platz gehabt.

Sie freut sich über Begegnungen, die sie aufgrund ihrer Erkrankung macht: «Auch wenn es Ärztinnen und Ärzte oder Therapeuten und Therapeutinnen sind, wenn es gute Menschen sind, ist das schön.» Selbst den Veränderungen innerhalb ihrer Familie kann sie Positives abgewinnen: Trotz der vielen Abstriche, die ihr Mann und ihr Sohn machen müssten, seien sie zu dritt viel enger zusammengewachsen. Und dann ist da noch das Schreiben. Nie hätte sich Nicola Renfer in ihrem alten Leben so viel Genuss gegönnt.

Ich schrieb mich regelrecht frei. Dadurch habe ich gelernt, dem Schmerz nicht mehr so aggressiv zu begegnen. Ihn nicht mehr als Feind zu sehen, sondern ihm zuzuhören.
Nicola Renfer

Mit Leidenschaft gegen das Leiden

Dass sie anfing, ihrem Leiden mit Leidenschaft zu begegnen, verdankt sie einem Arzt. Einem Rheumatologen aus Liestal. Es war Zufall, dass sie überhaupt in seiner Praxis landete. Eigentlich sollte er nur Auskunft über auffällige Blutwerte geben. Doch er war anders als die anderen. Er stellte andere Fragen. Nahm sich anders Zeit. Er sah nicht nur die Beschwerden. Er sah die Frau, die Mutter, die Partnerin, die Lehrerin. Er sah den Menschen. Und obwohl es aus rheumatologischer Sicht keine Notwendigkeit für eine weitere Konsultation gab, blieb Renfer bei ihm in Behandlung. Er war es, der ihr vergangen August offen sagte: «Sie brauchen keine weitere Therapie. Fangen sie an Gedichte zu schreiben!»

Das tat sie dann auch. Und die Worte flossen nur so aus ihr heraus. Sie strömten und strömten. «Ich schrieb mich regelrecht frei. Dadurch habe ich gelernt, dem Schmerz nicht mehr so aggressiv zu begegnen. Ihn nicht mehr als Feind zu sehen, sondern ihm zuzuhören.» Seit sie den Schmerz als Begleiter sehe, gehe es einfacher. Auch wenn ihr dies nicht jeden Tag gleich gut gelinge. Aber beim Schreiben trete der Schmerz in den Hintergrund.

DSC 0512b

Ich finde es wichtig, trotz allem weiterzuleben. Auch wenn ich diesen Schmerz habe und nichts mehr ist wie vorher, bin ich trotzdem zufrieden. Weil es mir im Herzen drin gut geht. Dafür bin ich dankbar.
Nicola Renfer

Pacing als Schlüssel

Heute hat das Schreiben einen festen Bestandteil in Nicola Renfers Therapieplan. Neben Ergo- und Physiotherapie, Yoga und Medikamenten. Seit kurzem führt sie ein Schmerztagebuch. Darin hält sie akribisch fest, wie sie geschlafen hat, wie das Wetter war, was sie gegessen hatte und was sie sonst noch getan hat. «Mit dem Tagebuch versuche ich meine Belastungsgrenze auszuloten. Das ist nicht einfach, da die Verschlechterung manchmal bis zu 72 Stunden nach dem Auslöser auftreten kann. Aber dank dem Pacing, also dem gezielten Energiemanagement, sind diese Crashes weniger geworden.»

Dazu gehörte auch ein schwerer Schritt: Die Anmeldung bei der IV. Das Verfahren verlangt ihr viel Geduld und Energie ab. «Man wird zur Sekretärin der eigenen Krankheit. Es entsteht ein riesiger administrativer Berg, den zu bewältigen man gar nicht die Kraft hat.» Aber Nicola Renfer macht weiter. Langsam. Arbeiten teilt sie sich auf. Immer wieder legt sie sich hin, schläft oder ruht sich aus. Oft nimmt sie Ohrstöpsel und Augenmaske, um schmerzhafte Sinneseindrücke zu vermeiden.

Und manchmal geht sie auch mit ihrem Mann auswärts essen. Weil sie weiss, wie wichtig die Pflege einer Beziehung ist. Dann lässt sie anderes liegen, um die wenige Energie, die sie hat, mit ihrem Mann zu teilen. «Ich finde es wichtig, trotz allem weiterzuleben. Auch wenn ich diesen Schmerz habe und nichts mehr ist wie vorher, bin ich trotzdem zufrieden. Weil es mir im Herzen drin gut geht. Dafür bin ich dankbar.»

ME (My­al­gi­sche Enze­phal­omyel­itis) ist eine chronische neuro­immuno­logische Krankheit, welche in den meisten Fällen nach einem viralen Infekt eintritt. ME kann zu schwerer Be­hinderung führen. Die genaue Ursache der Erkrankung ist mangelhaft erforscht, doch es konnten bereits diverse Dysfunktionen des Nerven­systems, des Hormon­systems, des Immun­systems und weiterer Systeme und Organe nachgewiesen werden. Weitere Informationen: Schweizerische Gesellschaft für ME/CFS, www.sgme.ch

Dieses Porträt wurde im Mitgliedermagazin forumR 2023/3 der Rheumaliga Schweiz publiziert.