Während andere mit aufgeschlagenen Knien und blauen Flecken davonkommen, bricht sich Christian Wiedmer bei jedem Sturz Knochen. Der Diemtigtaler entscheidet sich trotzdem für ein aktives Leben. Er bereist andere Länder, spielte Rollstuhl-Basketball und steht als Musiker auf der Bühne.
Text: Simone Fankhauser
Fotos: Susanne Seiler
Mit geschlossenen Augen sitzt Christian Wiedmer in seinem Arbeitszimmer und performt den Song «Right in time». Die Akkorde, die seine Finger der Gitarre entlocken, tragen seine warme Stimme in die ganze Wohnung. Der Berner Oberländer kennt das Stück in- und auswendig. Er hat es selbst geschrieben und spielt es regelmässig an Konzerten.
Routine will er aber keine aufkommen lassen. Einfach nur gut ist ihm zu wenig. Er strebt stets nach etwas Besonderem. Das gilt fürs Songwriting ebenso wie für die Wahl eines Liedes oder die Art, es zu interpretieren. Dass er die Gitarre wie einen Kontrabass spielt, hat aber mit diesem Anspruch nichts zu tun: «Nach dem letzten Unfall mit mehreren Trümmerbrüchen wurde mir das linke Handgelenk versteift. Ich musste eine neue Technik entwickeln, um weiterhin spielen zu können.» Von aussen betrachtet wirkt der Musiker alles andere als zerbrechlich. Doch seine Knochen brechen ebenso schnell wie Glas.
Der «Chrigu» war tabu
Der Bergbauernsohn und sein älterer Bruder waren eine Sensation in ihrem Dorf im Diemtigtal, damals in den 1970er Jahren. Beide Buben wurden mit Osteogenesis imperfecta geboren (s. Kasten). Während die anderen Kinder mit aufgeschlagenen Knien und blauen Flecken davonkamen, brachen sich die Wiedmer-Brüder bei jedem Sturz gleich Knochen. Obwohl alle wussten, dass man den «Chrigu» nicht anfassen durfte, gehörte er dazu, wie jeder andere. Sich gegenseitig zu helfen, war damals völlig selbstverständlich. Es wurde sogar für Wiedmer auf dem Pausenplatz gerauft, weil er das selbst nicht tun durfte. Das kam aber nicht häufig vor, denn er hatte es mit allen gut. Seine Offenheit und sein Humor haben ihm manche Tür und manches Herz geöffnet.
Ich glaube, ich war ein Sonnenkind. Sicher hätte ich gerne Fussball gespielt. Aber ich kannte nur dieses Leben.
Christian Wiedmer
Die Angst vor dem Schmerz
Doch wo Sonne ist, ist auch Schatten. Anpacken auf dem elterlichen Hof konnte er nur bedingt. Stattdessen verbrachte er viel Zeit allein im Spital. Jeder Sturz hinterliess tiefe Narben in der Kinderseele. Dieser Moment, wenn er auf dem Boden lag und ihn die Angst vor dem Schmerz umklammerte. Nur zu genau wusste er, wie sehr es wehtut, wenn sie ihn aufheben, um auf die Bahre oder den Röntgentisch zu legen. Auch die Behandlung der Brüche war oft sehr schmerzhaft.
Diese Erlebnisse haben Christian Wiedmer derart traumatisiert, dass er nie eigene Kinder wollte. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Krankheit erben und das Gleiche durchmachen würden, läge bei 50 Prozent. Dies für den Fall, dass die Mutter gesund ist. Mit seiner heutigen Frau, die ebenfalls betroffen ist, liegt das Vererbungsrisiko statistisch gesehen bei 75 Prozent. Auch ihm und seinem Bruder wurde die OI vererbt. Bei ihrer Mutter war die Krankheit aber so milde ausgeprägt, dass sie die Diagnose erst mit der Geburt der Söhne erhielt.
Grenzen ausloten – trotz allem
Die über 45 Brüche, die Christian Wiedmer bis heute an Armen und Beinen erlitten hat, haben auch äusserlich Spuren hinterlassen. Seine Knochen sind verkürzt. Mit einer Körpergrösse von 1,48 Meter und der Anzahl Brüche ist er aber im Vergleich ein «Mittelklassepatient». Andere Betroffene kämen auf über 100 Brüche. Ab der Pubertät wurden die Unfälle seltener. Was blieb, war die Angst vor dem nächsten Sturz. Ständig aufpassen zu müssen, dass einem nichts zustösst, das sei stressig. Die Wintermonate der blanke Horror. Deshalb das Leben nicht zu leben, sei aber keine Option. Eltern eines OI-Kindes rät Wiedmer deshalb, es spielen zu lassen, selbst wenn es sich dabei etwas bricht. Es sei wichtig, es möglichst normal zu behandeln und nicht überzubehüten.
Er selbst reiste nach der KV-Lehre nach England, später in die Karibik. Fussball spielen konnte er nie, dafür entdeckte er Rollstuhl-Basketball für sich. Die vier Räder maximal zu beschleunigen und dann mit einer Vollbremsung zum Stehen zu bringen, war seine Spezialität. Obwohl er die Grenzen auslotete, kam auf 14 Jahre Sport nur ein einziger Sturz.
Sichtbar sein in der Öffentlichkeit
Mit dem Älterwerden nehmen die Ereignisse wieder zu. In den letzten sechs Jahren hatte Christian Wiedmer drei grössere Unfälle. Beim letzten überquerte er mit Rollstuhl einen Fussgängerstreifen und landete durch eine unglückliche Aktion hart auf der Strasse. Da war er wieder, dieser Moment auf dem Boden, umklammert von der Angst vor dem Schmerz. Heute arbeitet Wiedmer mit einer Therapeutin an seinen Traumata. Seit besagtem Sturz muss er Gitarren-Solos seinem Bandkollegen überlassen. Das gehe nicht mehr mit der angepassten Spielweise.
Die Musik ist für ihn ein Gefühlsverstärker, positiv wie negativ: «Wenn ein Gig gut läuft, fühle ich mich hinterher wie ein König. Aber vorher würde ich am liebsten sterben», sagt Wiedmer, der hauptberuflich bei einer Grosshandelsagentur arbeitet. Rund 15-mal im Jahr spielt er auf einer Bühne eigene sowie Songs anderer Künstlerinnen und Künstler. Obwohl er lernen musste, seinen Körper zu akzeptieren, wollte er sich nie verstecken. In der Öffentlichkeit sichtbar zu sein, war ein Grund, weshalb er als 23-Jähriger Gitarre spielen lernte.
Aus Freundschaft wurde Liebe
Die andere treibende Kraft waren die Frauen. «Mit einer Körpergrösse von 1.48 Meter musste ich mich immer viel mehr beweisen, besonders lustig sein und mich anstrengen, damit ich überhaupt eine Chance bekam», sagt Wiedmer. Beeindruckt von der Wirkung, die Künstler wie Bruce Springsteen, Bryan Adams oder Bon Jovi auf ihre weiblichen Fans hatten, zog es auch Christian Wiedmer auf die Bühne. Heute ist er glücklich verheiratet. Aber nicht die Musik hat ihn mit seiner Frau Cornelia zusammengebracht. Beide kannten sich von der Schweizerischen Vereinigung Osteogenesis imperfecta (SVOI), bei der ihre Eltern Mitglieder waren. Sie war 8, er 15 Jahre alt, als sie sich das erste Mal begegneten.
Gemocht haben sie sich immer, die Liebe kam aber später: Seit 2006 sind sie ein Paar, seit 2017 verheiratet. Die gemeinsame Wohnung in Thun konnte mit wenig Anpassungen barrierefrei gestaltet werden. Da er an Krücken nur noch kurze Distanzen gehen kann, ist er bevorzugt mit Rollstuhl unterwegs, auch zuhause. Für ihn ist das vierrädrige Hilfsmittel ein Freund und kein Teufelszeug. «Es stört mich nicht, wenn Kinder mich anstarren oder jemand im Laden fragt, ob er mir helfen soll», sagt Christian Wiedmer. Die Sichtbarkeit seiner Krankheit, empfindet er als Erleichterung, weil er sich nicht erklären muss und die Leute Rücksicht nehmen. Immer häufiger lehnt er auch auf der Bühne den Transfer auf einen Stuhl ab. Musiker im Rollstuhl, das ist immer noch ein seltenes Bild.
Es geht auch langsamer
«Im Kulturbereich tut sich einiges in Sachen Inklusion», findet Christian Wiedmer und stellt die Gitarre beiseite. Seine Frau arbeite beispielsweise für einen Verein, der mit inklusiven Tanzproduktionen das selbstverständliche Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderungen fördert. Sie steht auch selbst als Tänzerin auf der Bühne.
«Schaut man hingegen, wie lange die SBB braucht, um hindernisfrei zu werden und wie es um die Zugänglichkeit vieler Restaurants oder öffentlicher Gebäude steht, kommt schon der Verdacht auf, dass jemand seinen Job nicht richtig macht.» Ärger schwingt in Wiedmers Stimme aber nicht mit. Mühsal ist wichtig, das hat man ihm als Kind vorgelebt. Die Bergbauern-Mentalität abzustreifen, braucht Zeit. Genauso wie es Jahre brauchte, um zu erkennen, dass es auch langsamer geht: «Ich muss heute nicht mehr den grossen Macker im Rollstuhl spielen. Jetzt weiss ich: You have to take it easy.» Vielleicht der Titel seines nächsten Songs? Wiedmer winkt lachend ab. Beim Songwriting erlebe er gerade eine Blockade. Einerseits, weil er diesen Anspruch habe, etwas Besonderes zu erschaffen, auf der anderen Seite seien die besten Songs aller Zeiten aus Liebeskrisen entstanden. Aber dafür ist er im Moment einfach zu glücklich.
Die Glasknochenkrankheit oder Osteogenesis imperfecta (OI) ist eine uneinheitliche Gruppe von Erscheinungsbildern verschiedener genetischer Veränderungen. Diese zeigen sich in erster Linie am Skelett, sind aber letztlich eine generalisierte Bindegewebserkrankung. Im Vordergrund stehen erhöhte Brüchigkeit und Deformierbarkeit von Knochen, aber auch Wachstumsstörungen und Veränderungen von Bindegewebe ausserhalb der Knochen. Bisphosphonate sind derzeit die beste medikamentöse Therapieoption für schwerere Formen von OI. www.glasknochen.ch
Dieses Porträt wurde im Mitgliedermagazin forumR 2024/4 der Rheumaliga Schweiz publiziert.