Sonderbare Zeiten: Um das Gehen auf unebenem Fussboden zu erleben, muss man heute schon fast ins Museum. Zum Beispiel auf den Ballenberg. In den alten Bauernhäusern des Schweizer Freilichtmuseums schaut man besser, wo man hintritt bei den vielen unregelmässigen Bodenbalken. Eindrücklicher noch ist das Erlebnis im Kunst-Haus-Wien, worin das Museum Hundertwasser untergebracht ist (siehe Bild). Stellenweise ist der Boden abenteuerlich uneben und wirkt wie bewegt durch die mosaikartige Oberfläche.
Hundertwasser nennt ebene Fussböden eine für Maschinen gemachte Erfindung der Architekten. Auf geradem Asphalt und Beton zu gehen, entfremde den Menschen der natürlichen Erdberührung und stumpfe ihn ab, mit schlimmen Folgen für sein seelisches Gleichgewicht und sein Wohlbefinden.1
Auf der anderen Seite gibt man sich bei altersgerechten Wohngebäuden heute alle erdenkliche Mühe, Zugänge und Bodenflächen zu nivellieren. Detaillierte Normen und Richtlinien garantieren einen stufenlosen und schwellenfreien Weg von der Strasse zum Hauseingang und ins Gebäude hinein. Auch von Zimmer zu Zimmer gelangt man in Alterswohnungen ebenflächig. Einzig noch an der Wohnungstür und zum Balkon hin darf eine maximal 25 mm hohe Schwelle oder Kante sein.2
Wo keine Unebenheiten sind, fehlen aber auch Trainingsmöglichkeiten für die Gelenke, die Muskeln und den Gleichgewichtssinn. Barbara Zindel (Physiotherapie) und Natalie Georgiadis (Ergotherapie) umkreisen dieses Dilemma und skizzieren Strategien für mehr Sicherheit und Balance.
Rheumaliga Schweiz: Wir gehen viel Zeit unseres Lebens auf künstlich geebneten Böden. Was sind die Folgen?
Natalie Georgiadis: Glatte, ebene Flächen sind für unseren Körper die pure Monotonie. Je steiler es in der Natur bergauf und bergab geht, desto mehr variieren wir die Stellung unserer Gelenke von den Füssen bis zur Hüfte, zudem die Ausrichtung des Beckens und den Muskeleinsatz fast des ganzen Körpers. Und je strukturierter das Terrain beschaffen ist, mal rau, mal glatt, mal steinig, sandig, glitschig usw., desto aktiver müssen Gelenke und Muskeln arbeiten. Jede einzelne Kombination aus Bodenbeschaffenheit und Neigungswinkel bildet einen besonderen Stimulus. So kommt im Laufe einer abwechslungsreichen Wanderung ein Potpourri unendlich vielfältiger Gelenkbewegungen und Muskelkontraktionen zusammen. Jedoch auf künstlich geebneten Böden repetieren wir nur immer ein und dasselbe minimale Bewegungsmuster. Stolpern wir einmal und verstauchen uns den Knöchel, geben wir dem Loch im Boden die Schuld. Doch das Missgeschick geht mindestens zur Hälfte auf das Konto unseres Sprunggelenks, dem das Training über Stock und Stein fehlt.
Barbara Zindel: Auch unserem Gleichgewichtsinn fehlt das Training, wenn wir unebenes Gelände meiden. Wer kann, sollte immer wieder anspruchsvolle, steile und abschüssige Wege unter die Füsse nehmen (wo es geht, auch einmal barfuss), das stimuliert unseren Gleichgewichtssinn und übt den körperlichen Balance-Reflex. Erst wenn wir im hohen Alter unbeweglich und gangunsicher werden, überwiegt das Sturzrisiko auf unebenem Terrain dessen möglichen Trainingseffekt. Dann muss eine andere Strategie zum Zuge kommen.
Rheumaliga Schweiz: Was für eine Strategie?
Barbara Zindel: Wir sehen bei älteren Menschen nicht nur die Körperbalance abhandenkommen, sondern auch die Muskelkraft der Beine drastisch schwinden. Sie kompensieren diese Defizite, indem sie sich behutsamer bewegen, von Handläufen, Haltegriffen, Abstützmöglichkeiten Gebrauch machen und öfter eine Pause einlegen. Die Menschen wählen intuitiv eine Strategie der Anpassung.
Natalie Georgiadis: Diese Strategie versagt aber, je mehr die kognitiven Kräfte nachlassen. Viele ältere Menschen zeigen Leistungsschwächen bei motorisch-kognitiven Doppelaufgaben, dem sog. Dual-Tasking. Gemeint ist zum Beispiel das gleichzeitige Gehen (motorisch) und Sprechen (kognitiv). Oder das Treppenhaus hinaufgehen (motorisch) und gleichzeitig am Schlüsselbund den Wohnungsschlüssel hervorkramen (kognitiv). Wer stehen bleibt oder bei einer Beschäftigung innehält, um über eine Frage nachzudenken und darauf zu antworten, verrät schon ein schwaches Dual-Tasking und hat, wie Studien zeigen, ein höheres Sturzrisiko.3
Barbara Zindel: Das Sturzrisiko ist noch grösser, wenn weitere Risikofaktoren hinzukommen, allen voran die Sturzangst. Die Angst, zu stürzen, erhöht nachweislich das Risiko, einen Sturz zu erleiden, auch bei Personen, die noch gar keinen Sturz erlitten haben. Weitere Risikofaktoren sind die Verlangsamung der körperlichen Reflexe (insbesondere des Balance-Reflexes) sowie Gelenkschmerzen, die den Gang stören. So ist die Wahrscheinlichkeit, in einer Dual-Task-Situation zu stürzen, im Falle einer Gangstörung fünfmal grösser.4
Rheumaliga Schweiz: Was kann man dagegen tun?
Barbara Zindel: Wir vermitteln in unserm Programm zur Sturzprävention spezielle Bewegungs- und Gleichgewichtsübungen und motivieren zur Teilnahme an den Bewegungskursen der Rheumaliga. Zudem erfassen wir die Wohnsituation älterer Menschen und geben Tipps, mögliche Gefahrenquellen zu beseitigen. Gemäss der Sturzstudie der ZHAW, die über 5000 Seniorinnen und Senioren einbezog, senkt ein einziger Hausbesuch die Sturzrate um 24%.
Rheumaliga Schweiz: Viele Unfälle passieren im Badezimmer. Warum? Und wie kann man sich davor schützen?
Natalie Georgiadis:Es gibt ein Architektenwort für Badezimmer: Nasszelle. Es bringt unabsichtlich die beiden Sicherheitsrisiken zur Sprache: die Rutschgefahr auf nassen glatten Oberflächen sowie die engen Platzverhältnisse in vielen Badezimmern, in Duschkabinen und Wannen, worin wir uns doch so ausgiebig bewegen. Zum Beispiel, wenn wir uns am ganzen Körper einseifen oder eincremen oder uns drehen und verrenken, um nach dem Waschlappen oder dem Shampoo zu greifen.
Barbara Zindel: Trotzdem hat es in jeder «Nasszelle» Platz für einen Hocker, sei es vor dem Lavabo oder in der Dusche. Für viele ältere Menschen ist es eine grosse Erleichterung, sitzend duschen und sich pflegen zu können. Ein Duschhocker empfiehlt sich allen, die barfuss unsicher gehen, die auf einem Bein stehend schnell aus dem Gleichgewicht geraten und die unter der Brause häufig auch noch sehbehindert sind ohne Brille, wenn Schaum in die Augen läuft oder der Dampf einer längeren warmen Dusche die Sicht trübt, zudem erhellt die Lichtquelle im Badezimmer nicht immer alle Winkel der Dusche.
Natalie Georgiadis:Neben einer Sitzgelegenheit kann auch ein seitlich angebrachter Haltegriff Sicherheit bieten. Wo man keine Löcher in die Wand bohren kann oder darf, empfehlen sich Haltegriffe zum Ankleben (siehe Abbildung links). Sie lassen sich mit einem für Medizingeräte zertifizierten Klebesystem auf allen glatten Plättli montieren. Andere Griffe funktionieren mit einem Vakuumsystem samt Sicherheitsanzeige (siehe Abbildung rechts). Diese gibt ein Signal, wenn die Haftkraft nachlässt und man den Haltegriff lösen und von neuem befestigen muss. Dabei ist es wichtig, dass jeder der beiden Saugnäpfe ganz auf einem Plättli zu liegen kommt, nicht über Fugen.
Barbara Zindel: Unsere Kundinnen und Kunden machen gute Erfahrungen mit mobilen Haltegriffen, trotzdem sind fix angeschraubte Haltevorrichtungen aus Sicherheitsgründen vorzuziehen. Andererseits haben mobile Griffe den Vorteil, dass man sie an verschiedenen Stellen ausprobieren und solange umplatzieren kann, bis sie genau da sind, wo man sie haben möchte. Vielleicht auch neben dem WC oder irgendwo in der Wohnung, bei einer Stufe, wo ein Handlauf fehlt.
Rheumaliga Schweiz: Was kann man sonst noch optimieren?
Barbara Zindel: Bei Hausbesuchen zur Sturzprävention treffen wir immer wieder auf die klassischen Stolperfallen wie lose Kabel oder eine schummrige Beleuchtung. Solche Sturzrisiken lassen sich relativ einfach beseitigen oder entschärfen. Genauso wichtig sind Verhaltensänderungen. Ältere Menschen sollten daheim immer geschlossene Hausschuhe tragen statt offener Finken oder Flipflops und bei einbrechender Dämmerung konsequent die Lichter anmachen, wenn sie sich in der Wohnung bewegen.
Natalie Georgiadis: Um das Risiko zu reduzieren, über Absätze und Schwellen zu stolpern oder auf der Treppe zu stürzen, empfehlen wir, ein fluoreszierendes Anti-Rutschband anzubringen. Es ist gleichzeitig eine Markierung fürs Auge (der schwächste Lichtschein bringt das Band zum Leuchten) und ein fühlbarer Stopper, dank seiner schmirgelpapierähnlichen Oberfläche. Also auch bei Tag eine sinnvolle Sicherheitsmassnahme für manche Situationen. Zum Beispiel, wenn man mit beiden Händen einen Wäschekorb trägt und auf der Treppe die Stufen mehr spürt als sieht. Man kann die ganze Treppe mit dem Anti-Rutschband versehen oder auch nur die erste und die letzte Stufe, um zu signalisieren, dass die Gefahrenzone Treppe hier anfange oder aufhöre.
Barbara Zindel: Genau, oft genügen einfache Massnahmen, die Sicherheitsrisiken in den eigenen vier Wänden zu verringern. Man muss sie nur zu identifizieren wissen. Unsere Wohnzimmerillustration gibt dazu ein paar nützliche Hinweise.
- Zugang zum Balkon oder Aussensitzplatz mit Tritt
- Telefon im Notfall schwer zugänglich
- Überlange Tischdecke
- Teppich mit nicht fixierten Ecken und aufstehenden Rändern
- Loses Kabel
- Gegenstände am Boden: Zeitschriften, Katzenspielzeug, Schuhe
- Treppenvorderkanten ohne Markierung und Antirutschsicherung
- Handlauf zu kurz
- Mangelnde Beleuchtung
Anmerkungen
- Hundertwasser: Der unebene Boden. Abrufbar unter diesem Link.
- Bohn, F.: Planungsrichtlinien «Altersgerechte Wohnbauten». 2. Auflage. Zürich: Schweizerische Fachstelle für behindertengerechtes Bauen; 2014. https://hindernisfreie-architektur.ch/
- Lundin-Olsson L, Nyberg L, Gustafson Y. «Stops walking when talking» as a predictor of falls in elderly people. Lancet 1997; 349: 617.
- Beauchet O, Annweiler C, Dubost V et al. Stops walking when talking: a predictor of falls in older adults? Eur J Neurol 2009; 16: 786-795.